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Hollywood vor der Selbstzensur, Teil 5: The Divorcee Review


2010-02-03  Tonio Gas  14 Likes  0 Kommentare 
"The Divorcee" ist ein sehr alter MGM-Tonfilm (1930), dem man in einigen wenigen Passagen noch das überzogene Stummfilm-Schauspielern anmerkt, der sich aber ansonsten recht gut gehalten hat, wenngleich die ca. letzten zehn Minuten aus einer Abfolge trivial-pathetischer Dialoge bestehen. In diesen (und in dem ganzen Film) geht es nur um das Eine: Wer mit wem? "The Divorcee" ist ein Ehe- und Beziehungsdrama. Man sollte sich den Film über die USA als Teil der DVD-Kollektion "Forbidden Hollywood" (Vol. 2) zulegen, dort ist die Qualität gut, und es gibt englische und französische Untertitel sowie zum hier besprochenen Film einen Audiokommentar. Die Kollektion trägt ihren Namen, weil sie Filme der "pre code era" versammelt, die vor Inkrafttreten von Hollywoods moralinsaurer Selbstzensurbestimmungen (1934) entstanden. Und bei allen fünf Filmen den Kollektion ist sichtbar, warum. Konkret zu "The Divorcee": Eine Frau mit dem männlich klingenden Namen Jerry (Norma Shearer) benimmt sich auch ganz gerne wie ein Mann: Sie ist berufstätig, sie sagt geradeheraus, was sie denkt, und jetzt kommt das ab 1934 nicht mehr Zeigbare: Als des Gatten Affäre am dritten Hochzeitstag herauskommt, tut sie es ihm einfach gleich! "I've balanced our accounts", ist eine der herrlich offenen, selbstbewussten Dialogzeilen, die die Shearer hier immer mal wieder sagen darf. Der Mann Ted (Chester Morris) ist not amused, und vielleicht war auch dies für 1930 ungewöhnlich: Männer kommen in diesem Film allgemein nicht gut weg, speziell Ted wird als infantiler Macho gezeigt, der an den tradierten Geschlechterrollen knabbert, aber letztlich ein Weichling ist. Das Schöne in diesem Film ist, dass das offen zur Sprache kommt. Als Ted "erwischt" wird, ist er dermaßen selbstgefällig, dass es weh tut: Zum einen würde diese Affäre überhaupt nichts bedeuten, zum anderen sei Norma selbst Schuld, da sie als Berufstätige zu selten da sei, und nun könne man sich doch wieder lieb haben... Jerry redet Tacheles: Ted benähme sich wie ein kleines Kind, das aus einem Marmeladentöpfchen genascht hätte und nun alles tue, damit Mutti ihm nicht mehr böse sei. Ted muss für eine Woche geschäftlich verreisen, Jerry sagt, sie möchte alles nicht sofort besprechen, sondern danach. Ted will Jerry umarmen (und mehr?), und Jerry sagt: "DAS machen wir auch ein andermal." Solche Offenheit in einem Film von 1930 hat schon was.

In der Woche von Teds Abwesenheit sucht Jerry Trost bei ihrem und Teds gutem Freund Paul, und der Schauspieler Conrad Nagel darf seinem Namen alle Ehre machen, wie man durch zugezogene Gardinen weiß. "I've balanced our accounts." Die zweite Aussprache zwischen Jerry und Ted wird noch schlimmer, Ted kommt noch schlechter weg. "Das sei ja wohl etwas gaaaaaanz anderes...", so Ted. Er akzeptiert die Waffengleichheit im Geschlechterkampf nicht, fühlt seinen männlichen Stolz verletzt und hat nur die eine Befürchtung, dass irgendjemand aus seinem Freundeskreis heimlich über seine Hörner lache. Sein eigener Seitensprung sei immer noch harmlos... Da reicht's Jerry und sie die Scheidung ein. Von nun an will sie JEDEN Mann AUSSER Ted an sich ranlassen, und tut es auch - alles Dinge, die unter das Verbot der 1934er Zensurbestimmungen gefallen wären.

Aber richtig glücklich ist sie dabei nicht. Das ist letztlich eine konsequente Charakterisierung der Jerry, die nicht als geborener Vamp porträtiert wird. Ein Ende, in dem sie als Männerjägerin glücklich und zufrieden lebt, wäre zwar mutiger gewesen, hätte aber zu Jerry, wie wir sie die ganze Zeit gesehen haben, überhaupt nicht gepasst. Daher ein Pluspunkt dafür, dass der Film in der Schlussphase noch ein paar Menschen zusammen- und auseinanderbringen wird. WIE er das tut, hat mich indes etwas enttäuscht, siehe auch den ersten Absatz dieser Rezension. Hat Ted eine dritte Chance verdient? Sehen Sie selbst!

Künstlerisch ist der Film wie inhaltlich: Meist gelungen, aber mit ein paar kleinen Abstrichen am Rande. Chester Morris ist mir in seiner Rolle als Ted zwar unsympathisch, aber er spielt den Gatten recht gut in dieser etwas stereotypen Selbstgefälligkeit, die ihn auch nicht glücklich macht. Das Zentrum ist natürlich Norma Shearer, damals ein Topstar. Sie ist immer gut, wenn sie lustig, ungezwungen, nachdenklich, stumm oder wortreich anklagend ist - und es ist ja bereits etwas dazu gesagt worden, dass ihr das flotte Drehbuch gelegentlich sehr dabei hilft, diesen Mann Ted zu dekonstruieren, da gibt es herrliche Momente. Doch wenn sie pathetisch-weinerlich wird, ist ihr Spiel arg gewöhnungsbedürftig. Völlig übertriebene Gestik und Mimik und eine sehr künstliche, unsichere Stimme, die auf einer unnatürlich hohen Lage geschwollen statt hysterisch zu sein versucht, zeigen: Da war er noch sehr jung, der Tonfilm, so agierte man im Stummfilm, und die dazu passende Stimme (oder am besten ein Abstandnehmen von solchen outrierten Mätzchen) wollte der Shearer nicht gelingen. Schade! Die Erzählweise ist ansonsten ja gar nicht schlecht, selbst mit dem typischen Metro-Edelkitsch-Ambiente der damaligen Zeit kann man leben. Im Gegensatz zu den harten, realitätsverbundenen Warner-Brothers-Sozial- und Gangsterdramen hat Metro immer seine eigene Welt in den phänomenalsten Studiosets geschaffen und die reale Welt nicht hineingelassen. Das gereicht diesem Film eher noch zum Vorteil, weil auch die Beziehungskiste etwas aus dem wirklichen Leben erzählt und der Film konsequenterweise alles weglässt, was davon ablenken könnte. Der Film beginnt mit einer Freundesclique in einer Ferienhütte - warum sind die da, wo steht die, was machen die da, was machen die sonst so beruflich, woher kennen die sich? Später: Was ist eigentlich Jerrys Beruf? Was tut Ted außer Fremdgehen noch mal genau? Was soll der spätere Jerry-Aspirant Paul (Conrad Nagel) beruflich in Japan machen? Warum kommt Jerry am Ende beruflich nach London? Verschiedene Orte in den USA, London, am Ende Paris: Der Film verzichtet völlig darauf, uns ernsthaft zu suggerieren, dass das Team an diesen Orten gewesen sei. Es gibt Häuser, Bars, Hütten, einmal einen See (als Rückprojektion, ist zu vermuten), es sind alles ganz offensichtlich ortlose Studiosets. Ich habe das als positiv empfunden. Orte sind metaphorisch statt geographisch. Paris ist halt der Ort, an dem sich in der Prohibitionszeit ein frustrierter Ami vollaufen lassen konnte, da braucht's nur eine Bar, und bitte bitte nicht schon wieder einen Establishing Shot mit Eiffelturm. Schön, dass "The Divorcee" auf so etwas verzichtet. Dafür gibt's (mit Ausnahme des Endes, siehe am Anfang) ein im Kleinen aufmerksames Drehbuch. Dass Jerry wahre Gleichberechtigung und wie ein Mann sein will, sagen nicht nur ihr Name und ein paar offene Dialogzeilen in diese Richtung, sondern auch Verstecktes: "I'mbest man", sie wird Trauzeugin bei der Hochzeit einer Freundin sein - auch so was ist sicherlich nicht zufällig geschrieben worden. Und wie die Regie ihr das Hantieren mit Gegenständen kunstfertig zum Kommentar der Stimmungen macht, ist von einer in der damaligen Zeit eher seltenen detailfreudigen Aufmerksamkeit. Als das mit der Affäre heraus ist, nestelt sie an ihrem Ehering, als wolle sie ihn gleich abnehmen (was dann aber nicht passiert). Als Ted alles wieder gut sein lassen will, schiebt sie wie beiläufig Gegenstände zwischen sich und ihn, alle Annäherungsversuche nonchalant abwürgend. Sie ist über weite Strecken schon beeindruckend, die Norma Shearer wie die Jerry, ihre Rolle. Aber leider nicht immer. So geht es auch dem Film. Daher drei Viertel der Maximalpunktzahl.

Meist gut und mit Liebe zum Detail geschriebenes wie gespieltes wie inszeniertes Ehedrama. Leider neigt Norma Shearer in einigen wenigen Szenen zum Overacting, und das Ende ist etwas schal.

Punktewertung

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   Titel The Divorcee [VHS]
   Genre
   Release
   Systeme
   Publisher
   Altersfreigabe Freigegeben ab Jahren
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