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39 Stufen Review


2010-08-09  Tonio Gas  14 Likes  0 Kommentare 
"Die 39 Stufen" bestellte ich ehrlich gesagt in Hoffnung auf das Original von Hitchcock (GB 1935), und es kam eines der mittlerweile mehreren Remakes - ein britischer Film von 1978 mit Beteiligten, von denen hierzulande nur John Mills (in einer größeren Nebenrolle) halbwegs bekannt ist. Nach längerem Herauszögern des Guckens durfte ich dann aber heute einen überraschend guten Film genießen. Er ist angenehm altmodisches Agentenkino mit zurückhaltender Darstellung expliziter Gewalt, aber dennoch mit hohem Tempo, origineller Dramatik, interessanter Geschichte und teils ironisch-satirischem Biss. Wie im damaligen Hitchcockfilm und im zugrundeliegenden Roman geht es darum, dass ein Ahnungsloser namens Richard Hannay im London des Jahres 1914 in die Jagd nach einem Geheimnis verwickelt wird, das über die sofortige Auslösung des Ersten Weltkrieges angesichts einer noch unvorbereiteten Britischen Armee entscheiden könnte.

Grundsolides Hitchcock-Remake
Zunächst scheint der Film nicht entschlossen zu sein, ob er Hitch-Remake oder einfach Alternativverfilmung eines Unterhaltungsromans sein soll (von dem Hitch übrigens nicht viel übrig gelassen hatte). Er scheint den Fehler zu begehen, die Geheimniskrämerei des Romanes viel wichtiger als Hitch zu nehmen, dem die äußere Hülle lediglich einer seiner berühmten "McGuffins" war - etwas, das für die Handlungen der Personen höchst wichtig, aber für die Handlung des Filmes völlig unwichtig ist (etwa der berühmte Koffer, hinter dem alle her sind und von dem bis zuletzt nicht geklärt wird, was er enthält). Der vorliegende Film hingegen erklärt mehr und schildert die drohende Gefahr konkreter. Zudem lässt die Idee, dass ein Attentat auf einen Politiker den Krieg auslösen soll (von dem es noch zudem heißt, er "hielte den Balkan zusammen"), einen Anklang an die Realität erkennen. Weitere Veränderung: Unser Hannay ist diesmal zwar auch der Ahnungslose, der unschuldig verfolgt wird, aber er ist nicht Hitchs reiner Tor und Mann ohne Eigenschaften, sondern ein "Mann mit Vergangenheit": Er hatte sich im (übrigens von den Briten sehr unsauber geführten) Burenkrieg ausgezeichnet, war dann aber als Ingenieur in deutschen Kolonien tätig, steht also für seine Verfolger zwischen den Fronten und muss auch persönlich die Verwandlung vom friedliebenden Techniker zurück zum Kämpfer vollziehen. Dies fügt sich jedoch hervorragend in den Kosmos der klügeren Agentenfilme ein, die immer auch von Identitätsproblemen handeln. Hannay kann seiner Kämpfer-Vergangenheit nicht entkommen, so sehr er es auch will. Zunächst wird er (nach einer Messer-im-Rücken-Szene, die verdächtig nach Hitchs "Der unsichtbare Dritte" aussieht) für einen Mörder gehalten, dann muss er auf der Flucht immer wieder falsche Identitäten annehmen, um schließlich wieder zum Kämpfer zu werden (auch wenn ihm der Film erspart, selbst skrupellos töten zu müssen). Auch die Kraft der Gegner resultiert aus einem Spiel mit falschen Identitäten und Wölfen in Schafspelzen.

Der Film ist schließlich trotz eines Mehr an Erklärungen und Verwurzelungen in der Realität eine klare Hitchcock-Hommage, und zwar eine gute. Die atemlose Flucht durch England und Schottland mit jeder Menge liebenswert-überzeichneter Klischees von Landstreichern, Jagdgesellschaften, Politikern auf Versammlungen erinnert an das Original von "Die 39 Stufen" und hat Pfeffer. Herrlich komisch, und doch ein bißchen boshaft, ist die Szene, in der Hannay in Landstreicherkleidung und offensichtlich ebenso riechend auf eine feine Jagdgesellschaft trifft. Angesprochen, was er auf dem Privatgut verloren habe, denkt er sich die Geschichte einer 500-Pfund-Wette aus, dass er eine Stunde lang als Beute in einer "Menschenjagd" entkommen könne - auch die Kleidung ließe sich so erklären, denn der Jäger soll die Witterung verlieren. Die Jäger schätzen diesen britischen Sportsgeist sofort und nehmen den Mann bei sich auf! Hier haben wir Hitchcock in seiner Frühzeit, als noch nicht alles bleiern und psychoanalytisch bei ihm war, sondern atemlos, verspielt, locker-leicht, aber nie seicht, sondern bissig. Damit kommt der Film gerade "Die 39 Stufen" besonders nahe, der im genannten Sinne zum Besten aus Hitchs früher britischer Periode zählt. Im Übrigen zitiert der Film ausgiebig "Der unsichtbare Dritte" (neben der genannten Szene gibt es noch einen Flugzeugangriff auf Hannay und einen Zug, der in einen Tunnel fährt). Dass der Schrecken oftmals nicht in geheimen Ecken lauert, sondern in größtmöglicher Öffentlichkeit, in der die Bösen unter dem Schleier der Etikette vorgehen und/oder der Gute angesichts einer argwöhnischen Masse nichts unternehmen kann, ist ein Thema von gleich mehreren Hitchcockfilmen, was hier ausgiebig und sehr effektiv zelebriert wird. Und dass am Ende in einem Wettlauf gegen die Zeit der Held über einem hohen Abgrund hängt, noch dazu an einem Bauwerk mit Wahrzeichencharakter, ist Hitchcock pur. Das Remake erweist sich hier als solides Suspense-Kino; obwohl wir (wie auch bei Hitch) niemals um das Überleben des Helden bangen, ist der sich langsam und sorgfältig steigernde Schnittrhythmus bis hin zum Höhepunkt von einer Kraft, die den Zuschauer in ihren Bann zu ziehen vermag.

Das Film-Vorbild ist leider so übermächtig, dass das Remake ein bißchen abfällt - so ist beispielsweise die Frauenrolle eigentlich eine uninteressante Kopie von so vielen Frauen, die dem Verfolgten helfen, aber der Film verliert sie gegen Ende zu sehr aus den Augen und lässt im Dunkeln, warum sie es tut. Dass "jemand nicht aussieht wie ein Mörder" ist naiver Blödsinn - hier, im Psychologischen statt im Politischen, hat Hitch das "Warum" immer sehr interessiert, und seine teils sehr komplexen Antworten darauf leistet das Remake nicht einmal im Ansatz. Auch kommt es an damals innovativen skurrilen Ideen und Schnitt-/Tonschnitteinfällen nicht an den 1935er Film heran. Überhaut, innovativ: Natürlich hat Hitch da die Nase vorn. Was 1935 neu war, ist es 1978 nicht mehr. Das Remake kann das Rad nicht neu erfinden. Sein großes Plus ist jedoch, dass es das auch gar nicht will. Es ist grundsolide und gut; dies ist hier ausdrücklich als Kompliment gemeint. In einer Zeit, in der viele Remakes den Bach heruntergehen, gereicht es einem Film zur Ehre, grundsolide und gut zu sein. Damit hat er sich 80 Punkte verdient.

Die DVD hat als Extra nur den Trailer und keine Untertitel, aber den deutschen und englischen Ton.

Angesichts vieler misslungener Hitchcock-Remakes eine kleine Perle des britischen Agentenfilmes, wenn auch nicht ganz an den Meister heranreichend.

Punktewertung

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   Titel 39 Stufen
   Genre
   Release 2010-06-10
   Systeme
   Publisher SchröderMedia HandelsgmbH & Co KG
   Altersfreigabe Freigegeben ab Freigegeben ab 12 Jahren Jahren
   Homepage
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