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Tage der Verwilderung Review


2011-04-01  Spielemagazin  9 Likes  0 Kommentare 
Es ist wohl eine der schlimmsten Vorstellungen: Sich nicht mehr erinnern zu können. Wenn die Gegenwart im Nichts vzerfällt und ein gestern verfliegt als wäre der Tag nie gewesen, dann kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen. Jake weiß nicht mehr so recht, woran er glauben soll. Erinnerungsfetzen streifen durch seine Wahrnehmung, aber er kann sich auf diese Bruchstücke einer möglichen Vergangenheit wirklich keinen Reim machen. Auch weiß er nicht, was aus seiner Frau oder seiner Tochter passiert ist. Beängstigend...

Tage der Verwilderung
Ein Haus, ganz aus Glas, inmitten der Moorlandschaft von Lincolnshire, das war Jakes lebenslanger Traum. Doch es kam anders: Einzig für das örtliche Gefängnisgebäude ist der Architekt bekannt - und dort sitzt nun sein Sohn Henry ein. Doch Jake weiß nicht mehr, warum Henry verurteilt wurde, noch kann er sich erinnern, was mit seiner Tochter oder seiner Frau passiert ist. Bilder aus der Kindheit und den ersten glücklichen Ehejahren tauchen auf, aber sie werden zunehmend widersprüchlich. Ein Effekt, so faszinierend und verwirrend wie der Blick durch ein Kaleidoskop.

Die englische Autorin Samantha Harvey zeichnet mit "Tage der Verwilderung" ein erschreckendes Bild des Vergessens. Sie zeigt uns wie sich Gedächtnisverlust anfühlen muss - und das überaus plastisch. Mit lebendigen Bildern oder eben dem Fernbleiben jedweder Farbigkeit einer Vergangenheit zeigt sie den fortlaufenden Prozess einer Entfremdung von sich selbst. Der fortschreitende Gedächtnisverlust macht es Jake immer schwerer die Kontrolle über sein eigenes Leben zu behalten und alles zu einem großen Gesamtbild zusammenzufügen. Eine bemerkenswerte Analyse einer zunehmenden Erkrankung...

Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
Inmitten eines Meeres von vergessenen Ereignissen und Namen gelangen einzelne Episoden mit erstaunlicher Auftriebskraft an die Oberfläche. Sie tun das weder in einer sinnvollen Reihenfolge, noch besteht ein Zusammenhang zwischen ihnen. Er hält den Blick auf die Erde unter sich gerichtet, seltsamerweise, denn früher hätte er sich dem Horizont oder dem Himmel zugewandt, und er hätte deren schiere Weite genossen. Jetzt hält er nach Miniaturen Ausschau und hofft, in ihnen Trost zu finden: in den Gebäuden tausend Meter unter ihm, den Mooren, so schwarz und flach, dass sie nicht perspektivisch erscheinen, dem Gefängnis und seinem Gelände, Männer, die auf einer Laufbahn ihre Ellipsen ziehen, der Schandfleck der Vororte.
Der Pilot ruft etwas und zeigt nach rechts. In einiger Entfernung wird ein Wald abgeholzt, und man sieht, wie ein Baum sich neigt und umknickt, dann noch einer, wie Streichhölzer.
"Unwirklich von hier oben!", ruft der Pilot.
"Ja", antwortet er. "Die Quail Woods. Werden gefällt."
Er beugt sich vor und berührt den Piloten an der Schulter, ohne zu wissen, was er mit der Geste sagen will. Dass er geerdet sein will vielleicht - er möchte wieder auf der Erde sein, ihm ist schlecht, und er hat ein wenig Angst. Doch der Pilot scheint seine Hand für einen flatternden Schal oder gar für einen vom Kurs abgekommenen Vogel zu halten, denn er dreht sich nicht um.
"Mein Sohn!", ruft er. "Da unten, im Gefängnis!"
Der Pilot nickt und reckt den Daumen hoch, vielleicht hat er ihn nicht verstanden.
"Ich habe das Gefängnis gebaut, den neuen Teil, in den Sechzigerjahren", ruft er in den Wind.
"Ja", erwidert der Pilot. "Schrecklich, das finde ich auch. Verschandelt die Landschaft."
Er lehnt sich so weit hinaus, wie er es wagt. Ob er seinen Sohn sehen kann? Ob sie einander sehen können? Mit leisem Neid sieht er dabei zu, wie die Männer mit mechanischer, ameisenhafter Anmut ihre Runden drehen. Der da ist Henry. Nein, doch nicht. Der da vielleicht. Oder der? Unmöglich zu sagen. Von hier aus sind sie alle dünn, außerdem trübt der Wind den Blick. Das Gefängnis gleitet nach hinten, als das Flugzeug ostwärts schwenkt, und ein Stück Küste kommt in Sicht.
"Mein Sohn hat den Verstand verloren", ruft er dem Piloten zu. Er möchte diesen Punkt gleich klarstellen; die Welt hat ja mehr Mitleid mit dem Geistesgestörten als mit dem Kriminellen. "Vorübergehend, nach dem Tod seiner Mutter", schränkt er ein. Die Welt hat eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, auch was Geistesgestörte betrifft.
Die Antwort des Piloten peitscht der Wind davon. Das Wort klang ein wenig wie ein "Nein", als sei der Wind, ja die Luft selbst, mit ihm darüber uneins.
Um seine flatternden Gedanken ruhig zu stellen, fixiert er den dicken Hals des Piloten, seinen Kragen, und überlegt, wie das Material heißt. Leder ist es nicht, aber etwas Lederähnliches, das man häufig sieht; eigentlich müsste er es wissen. Er wusste es auch einmal. Vorsichtig berührt er es und zieht die Finger schnell zurück, faltet die Hände und führt sie ans Kinn. Er schließt die Augen und spürt einen leichten Aufruhr im Magen; wenn sie nur langsamer fliegen würden, oder landen.

Die englische Autorin Samantha Harvey, Jahrgang 1975, hat in Irland, Neuseeland und Japan gelebt, geschrieben und unterrichtet. Sie hat Philosophie studiert und ist Mitbegründerin einer wohltätigen Umweltorganisation. Tage der Verwilderung, ihr erster Roman, wurde mit dem Betty Trask Award und dem AMI Literature Award ausgezeichnet und mehrfach nominiert, u.a. für den renommierten Booker-Preis. Das US-Magazin Harper's Bazar kürte Harvey zu einer der "Women to Watch in 2009".

Erschreckend nahegehend! "Tage der Verwilderung" macht nachdenklich und lohnt jede Zeile...

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   Titel Tage der Verwilderung: Roman
   Genre
   Release
   Systeme
   Publisher Deutsche Verlags-Anstalt
   Altersfreigabe Freigegeben ab Jahren
   Homepage
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