Mit der Kommerzialisierung des Home-Computers in den Anfängen der 1980er Jahre entfaltet sich ein unglaubliches Potential an Berechnungen. Davon partizipieren die unterhaltsamen Interaktionskonzepte der Computergames mit ihren kurzweiligen oder ausgedehnten Sessions. Während frühe Spiele in den Anfängen auf der Basis zweidimensionaler Aktionsflächen basierten, so steigern sich in den 1990er Jahren die Bildberechnungen mit der Beschleunigung der Prozessoren und Grafikchips enorm mit dem Aufwarten dreidimensionaler Kunstwelten, die sich immer aufwendiger und detailfreudiger ausbauen.
Das Gefühl und die Illusion, sich zunehmend selbst in den virtuellen Räumen zu be-wegen und Bestandteil der Szene zu sein (Immersion) wird durch folgende Faktoren getragen: die Kunstwelt perfektioniert sich visuell (fotorealistische Bilder), konstitutionell (komplexe Objektdetails, Narrationskonzept) und im Hinblick auf ihre Interaktionsmöglichkeiten (K.I., Physik, freie Bewegung). Der Grad des Realismus zeitgemäßer Simulationen ist zuweilen so hoch, die Täuschung so perfekt, dass die Künstlichkeit immer weniger zur Geltung kommt. Man denke beispielsweise an das Genre der Rennsimulationen und der enormen Entwicklung der Fahrzeug- und Umgebungsdetails sowie der programmierten Fahrphysik (s. Abb.).
Abb.: Cockpitperspektive (vgl.: Korn: Zur Entwicklungsgeschichte und Ästhetik des digitalen Bildes. Aachen: Shaker 2005, S. 190-193)
Motive: Testdrive 1 (1987, links oben), Have a nice day 1 (1997, r.o.), Rallye Championship 2002 (2002), World Racing 1 (2003)
Zur Umsetzung der mannigfaltigen Unterhaltungskonzepte bedient sich das Computerspiel mit anwachsender Hardwareleistung den Potentialen traditioneller Medien wie Text, Ton, Foto, Animation. Das Datenmaterial wächst entsprechend bytedurstiger Medien enorm an. Besonders die Filmästhetik wird in vieler Hinsicht adaptiert oder mit den eigenen Potentialen (K.I.) verschmolzen. Die Passivrezeption wird durch Aktion aufgehoben. Spiele werden Filme, Filme werden Spiele. Beispiele sind hier Tomb Raider, Indiana Jones, Herr der Ringe, Matrix u.a. Anspruchsvolle Aufgaben gepaart mit artistischen Aktion-Einlagen begünstigt durch das Motion Capturing treiben den Plot im "gespielten Film" voran, erlauben endlich die Übernahme der Rolle des Protagonisten. Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Reale, fiktive oder semifiktive Welten werden von ehrgeizigen Entwicklerteams konstruiert, um dem Nutzer die unterschiedlichsten Szenarien und cineastische Effekte zu bieten. Mit besonderen Fahrzeugen, Waffen (innovativ: die Gravity-Gun in HF 2) und persönlichen Eigenschaften ausgestattet behaupten sich die Figuren in den Kunstwelten parallel zur wirklichen Wirklichkeit, sie sind medialer Bestandteil der Alltagsrealität und durch die Echtzeitkommunikation (Onlinegames) in eine globale Comunity eingebunden.
Konzentriert man den Blick auf die Entwicklung der Spielfiguren, so lässt sich der Weg von lieblichen Avataren wie Pac Man oder Mario hin zu virtuellen "Stars" wie Lara Croft oder Gordon Freeman aus den Schmiden der Spieleentwickler festhalten. Die APC's (availible personal character) bekommen immer mehr Identität, mit Spielen wie HalfLife 2 kommen zudem intensive Bemühungen dazu, die Facial Animation mit Mimik und Gestik zu verbessern. Gefühlsregungen und emotionale Reaktionen verhelfen in ersten Schritten zuweilen dem "digitalen Pinoccio's" den Übergang zur Lebendigkeit. Ob die filmische Vision von Steven Spielbergs "K.I." mit seinen täuschend menschlich wirkenden "Mechern" auch mit den Kunstfiguren des Computerspiels vollzogen werden kann, muss die Zukunft beweisen. Aber eines zeigt der Rückblick auf die Entwicklung des Computerspiels in meiner Untersuchung zur "Ästhetik des digitalen Bildes" deutlich: es werden mit dem Aufkommen digitaler Technologie intensive Anstrengungen unternommen, Teile der uns vertrauten Welt nachzustellen und zu simulieren. Zugleich erlauben die technischen und konzeptionellen Potentiale im Wirkungskreis des Computerspiels die Überwindung linearer ZeitRaumKonstanten. Anders formuliert: virtuelle Szenarien sind nicht ausschließlich auf natürliche Vorbilder ausgerichtet, historische oder in ferner Zukunft liegende Schauplätze entführen in das Reich der Phantasie jenseits der Alltagsrealität. Das jeweilige Konzept entscheidet, ob mehr den "Fakten" oder den Visionen der Vorrang eingeräumt wird. Dabei fungieren Computer oder Spielkonsolen gewissermaßen wie das bekannte Vehikel aus H.G. Wells "Zeitmaschine".
Virtuelles Neuland
Aufbruch zu neuen Grenzen
Ein Special von Andreas Korn
Die Expansionslust im Wirkungskreis kultureller Dynamik ist auf Grenzen gestoßen, wie die Geschichte der Landvermessung und Besiedlung zeigt. Das Kapitel der Neulandgewinnung ist längst abgeschlossen, sieht man von noch unerschlossenen Rohstoffressourcen oder unwirtlichen Territorien ab. Sicherlich zählte zu den letzten enthusiastischen Unternehmungen der Way West bei der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Nord und Südpol als letzte weiße Flecken entdeckt und vermessen wurden und die geografische Landkarte nahezu vollständig beschrieben wurde, kann sich nun ein Aufbruch in viel versprechendes terrestrisches Neuland nicht mehr ergeben, oder doch? Dem Menschen scheint mitgegeben zu sein, mit seinen Seh und Sehnsüchten das Mosaik der terra incognita auszuweiten, beziehungsweise jenseits natürlicher Sichtbarkeiten Artefakte hervorzubringen. Mit "Sehmaschinen" ließen sich im 20. Jh. in Nebelkammern Spuren atomarer Teilchenbewegung sichtbar machen, mit Rasterelektronenmikroskopen Einblicke in die Makrosphäre von Zellkernen vornehmen oder die Weiten des Weltraums erforschen. All dies hat zu einem neuen Bild unseres Kosmos geführt. Richtet man in Bezug zu medialen Entwicklungen und Vorbildern den Fokus weiter in die Vergangenheit zurück, so geben die inszenierten Höhlenmalereien der Frühkulturen bereits Zeugnis ab oder meisterhafte Malereien der Renaissance, die mit ihren illusionären Wirklichkeiten das Auge des Betrachters dahingehend zu täuschen versuchten, den Eindruck des Authentischen, des Wirklichen zu vermitteln. Das Bestreben, immer perfektere und auf Automation abzielende Bilderscheinungen zu produzieren, führt zur Entwicklung werkzeuggestützter Bilder wie sie beispielsweise die Laterna magica hervorbringt oder zu den Panorama-Rotunden im ausgehenden 18. Jh., die den Beschauer in ihre raumgreifenden Bildwelten implementieren. Technischer Höhepunkt immersiver Medien wird in der Folgeentwicklung im 19. und 20. Jh. von der Fotografie und dem Film markiert. Der Benutzer befindet sich im Prozess des Bildkonsums traditioneller Medien allerdings in der vergleichsweise passiven Position des Beschauers.
Das ändert sich mit dem Übergang von mechanischen, elektronischen zu digitalen Rechenmaschinen im 20. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen des Personal Computers entstehen virtuelle Kommunikations und Bildräume, deren Nutzung auf Interaktion basiert und ungeahnte Potentiale freisetzt. Fehlendes territoriales lässt sich in unserer Digitalkultur nunmehr durch virtuelles Neuland ersetzen. Treffend spricht Manfred Faßler (Intensive Anonymitäten, 1999) vom elektronischen sozialen und globalen Zusatzraum. Besonders die fotorealistischen und Aktion geladenen Kunstwelten der Computerspiele eröffnen neue Terrains. Mit immer schneller werdenden Datenleitungen besteht im 21. Jh. die Grundlage mit den OnlineGames die Kolonisierung des virtuellen Raumes auszubauen. Man misst sich im E-Sport, experimentiert mit neuen Ich-Repräsentationsformen und Eigenschaften.
E-Sport im Zeichen von "Counterstrike: Source"
Vor allem aber: es werden neue Grenzen erfahr oder bislang unzugängliche Areale erreichbar. Was bislang unseren Träumen vorbehalten war, kann zu medialer Realität heranreifen. Der Spieler kann unsichtbar sein, mit Infrarotsicht im Dunklen sehen, besondere Kräfte freisetzen oder gar die Schwerkraft überwinden. Im GodModus ist er gar unverletzbar und unbesiegbar. Das Unmögliche lässt sich scheinbar im Wirkungsraum der virtuellen Realität überwinden. Kosmische Rahmenbedingungen wie Trägheit, die lineare Chronometrie unseres eigenen Zeitpfeils sowie der festgelegte Verfassungsstatus unserer Person verlieren ihren inhibitorischen Status und machen den Weg frei jenseits aller Grenzen. Der lineare Zeitpfeil kann im Computerspiel an nahezu beliebigen Punkten neu ansetzen und uns auf eine Zeitreise in die Vergangenheit, Gegenwart oder in die Zukunft katapultieren. Interaktionskonzepte mit immer komplexer werdender Künstlicher Intelligenz entführen den Spieler in die der Realität nachempfundenen oder phantastischen Welten. Besonderer und essentieller Ausrüstungsgegenstand auf der Reise durch den virtuellen Raum zu neuen Grenzen ist das "fliegende Auge". Der Mediennutzer im Computerspiel ist gewissermaßen mit einer lenkbaren virtuellen Kamera ausgestattet, die im Zusammenspiel mit CPU, Grafikkarte, GameEngine und Eingabegeräten aus personennaher oder ferner Perspektive die Kunstwelt auf den Bildschirm hervorzaubert und den Fortschritt sowie Interaktion im Raum koordinieren lässt.
Während frühe Computerspiele mit langsamen Bildschwenks oder mit kleinen Animationen aufwarteten, kommt mit technologischem Zuwachs immer mehr Bewegung im veristischen 3DBildraum hinzu. Gerade die schnelle Bildberechnung, Beschleunigung und freilich von den Entwicklern zur Disposition stehenden Handlungsabläufe führen den Spieler in Rennsimulationen wie "Need For Speed Most Wanted" (EA 2005) an Grenzen, die jenseits der Alltagsrealität stehen. Wie mit einem fliegenden Auge durcheilt man virtuelle Stadtlandschaften. Bei hoher Geschwindigkeit und unter Zuhilfenahme von beschleunigendem Nitro verschwimmen die Umgebungsdetails. Man führt das Fahrzeug im Rausch durch den Verkehr. Plötzlich auftretende Verkehrshindernisse oder Abzweigungen sind mit Höchstgeschwindigkeit nur schwer zu meistern. Abhilfe verschafft für kurze Zeit ein SlowMotionModus, der mit Zeitlupentempo schwierige Fahrmanöver erlaubt. Sprints mit über 200 km/h durch die Innenstadt würde man im normalen Leben wohl kaum unternehmen, doch im Spiel bleibt auch nach schweren Crashs der eigene Wagen unversehrt. Das verführt dazu, waghalsige Aktionen durchzuführen. Ohnehin zählt es zu den Aufgaben, in bestimmter Zeit Distanzen zu überbrücken oder Rekorde mit Radarfallen aufzustellen. Nur mit maximalem Speed lassen sich die vorgegebenen Ziele erreichen. Leicht heben Fahrzeuge mit entsprechender Geschwindigkeit von Straßenkuppen ab, man schießt über steile Brücken oder durchbricht Parkschranken und Hindernisse.
"Need For Speed Most Wanted" (EA 2005)
Highlights auf Verfolgungsjagden sind einsturzfähige Wassersilos, Baugerüste oder Tankstellen, die sich zur Explosion bringen lassen. Das so ausgelöste Chaos bringt die Polizeiverfolgung zuweilen zum stoppen, mit der Flucht widersetzt man sich Bußgeldern und Festnahmen. Regelwidrigkeit bringt hier den Kick, nicht Gebote, sondern die Verbote verführen und verändern die Messlatte konventioneller Grenzwerte. Eindringliche visuelle Details und authentisch wirkende Funksprüche versetzen den Spieler in die Realität der Kunstwelt. Beispiel: bei einem soeben begangenen Verkehrsdelikt meldet der Polizeifunk das Fahrzeug mit einer Ortbeschreibung: ein blauer Porsche wurde am OceanPark von einem Verkehrsteilnehmer gemeldet. oder: er fährt schon wieder den Bayshore Boulevard entlang. Die K.I. scheint laufend Informationen zu verarbeiten und Feedback in Echtzeit zu vermitteln. Dadurch wird der Immersionsgrad das Gefühl des Eintauchens in die virtuelle Realität deutlich gesteigert.
Betrachtet man unter bildästhetischen Gesichtspunkten die Wirkung der simulierten Stadtlandschaft, so ist neben den beeindruckenden Architekturen und Lichtsituationen in der Kritik festzustellen, dass sich zwar viele Verkehrsteilnehmer darin bewegen, ansonsten ist die Stadt aber menschenleer. Man fährt, nimmt den Vergleich zum Endzeitfilm Der Omega Mann (USA 1971) hinzu, wie der Protagonist Charlton Heston durch eine unbelebte Szene. Andere Computerspiele wie Midnight Club, GTA oder Mafia zeigen dagegen eine Vielzahl von sich bewegenden Personen auf den SideWalks. Die vorgetäuschte Realität im neuesten Release von EA Erfolgserie ist in dieser Hinsicht zwar nicht perfekt, aber schließlich dient das Spiel der Unterhaltung und braucht keinen Prüfstempel einwandfreier Realitätssimulation. Die Mischung zwischen realitätsnaher und ferner Simulation macht hier den Reiz aus. Eines ist aber sicher, im fahrtechnischen Sinne werden mit dieser und einigen anderen Rennsimulationen neue Grenzerfahrungen ausgelöst.
Midnight Club
Genreübergreifend gilt für das Computerspiel im Gegensatz zum wahren Leben: der verursachte Schaden in Gefahrenmomenten ist virtuell. Anders formuliert: Der Spieler agiert vor dem Monitor oder Fernsehbildschirm in einem Schutzraum, der ihn im Bezug auf seine physische Verfassung unbeschadet an Grenzsituationen heranführt. [Mögliche psychische Nebenwirkungen durch hohen Spielkonsum oder Gewaltdarstellung können hier nicht weiter verfolgt werden; verwiesen sei an den Beitrag von C. Pfeiffer in der Ausgabe GF 8/2005, der diesen Aspekt bereits ausgeführt hat] Ob mit einem Porsche der Sprung von einem Brückenpfeiler gewagt wird, ob Lara Croft (Tombraider) in einen Abgrund stürzt, oder ob Sgt. Hardsock (Brothers in Arms) an feindlichen Attacken scheitert, das Alter Ego kann sich immer wieder neu formieren, beleben oder ist mit Sondereigenschaften und Cheats widerstandsfähig gegenüber allen Gefahren und Angriffen. Dieser Schutzraum, der Spieler wird mit seinem Avatar im virtuellen Raum telepräsent, macht es im Grunde erst interessant, sich bereitwillig ernsten Gefahren auszuliefern. Davon profitieren insbesondere Kriegsspiele, die mit immer authentisch werdenden Szenarien den Spieler an gefährliche Schauplätze heranführen und ihm die Perversion von Todesängsten spielerisch vor Augen bringen. Das Spiel mit der Angst in Grenzsituationen und Schockeffekten (F.E.A.R), mit der Überlegenheit auf Grund besonderer Eigenschaften oder mit der Prospektion auf Wunderbares, Phantastisches bewirkt den Kick, der dem Spieler den vorübergehenden Ausbruch aus der Alltagsrealität ermöglicht. Das fliegende Auge versetzt, schnell beschleunigt oder heftig gebremst, in bislang unerreichtes Terrain und führt uns an neue Grenzen, holt Geschichte und Zukunft in die Echtzeit spielerischer Unterhaltung zurück.
Verfolgungen und spektakuläre Sprungeinlagen
Nitrobeschleunigung, Rausch durch die virtuelle Stadt, Einsturz eines Wasserturms
Text 1
"Wandelnde Spielwelten oder - Reise in die mediale Wirklichkeit"
Ein Special von Andreas Korn (vgl.Game Face. Kulturelle Zeitschrift für Games Entwicklung. Berlin: Suct Verlag 12/2005)
Text 2
"Virtuelles Neuland ? Aufbruch zu neuen Grenzen"
Ein Special von Andreas Korn (vgl.Game Face. Kulturelle Zeitschrift für Games Entwicklung. Berlin: Suct Verlag 3/2006)
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